Hier geht es ums Leben.

Ich sitze im Bus und die weite Landschaft zieht an meinem Fenster vorbei. Ich möchte ein Foto machen, doch bei jedem Versuch spiegeln sich die Sitzreihen in der Scheibe, was es mir unmöglich macht. So schließe ich meine Augen und versuche mir das Bild in meinen Kopf einzubrennen. Das will ich nicht vergessen. 

 

Ich sitze im Bus und die weite Landschaft zieht an meinem Fenster vorbei. Ich möchte ein Foto machen, doch bei jedem Versuch spiegeln sich die Sitzreihen in der Scheibe, was es mir unmöglich macht. So schließe ich meine Augen und versuche mir das Bild in meinen Kopf einzubrennen. Das will ich nicht vergessen.

Und während ich hier sitze und meinen Blick schweifen lasse, steigst du am anderen Ende der Welt gerade in ein Flugzeug. Mit einem Becher Kaffee in der einen und einer feinsäuberlich gefalteten Zeitung in der anderen Hand.

Du drängelst dich durch die Sitzreihen auf dem Weg zu deinem Platz. Ein Kind schreit und als die Mutter versucht, den Koffer in das Handgepäcksfach zu hieven, stößt sie dabei gegen den Kaffee. Der Becher kippt und die braune Flüssigkeit ergießt sich über dein weißes Hemd und den Boden des Flugzeugs.

Anstatt zu fluchen, wie ich es getan hätte, bleibst du ruhig und nimmst die Entschuldigung mit einem Lächeln entgegen. Du kämpfst dich weiter durch zu deinem Platz und endlich dort angekommen, schlägst du die Zeitung auf.

Hungersnot in Afrika. Die Frau auf dem Foto hält schützend und traurig ihr Kind in den Armen. Während du Zeile für Zeile die Nachrichten in dir aufnimmst, kämpft sie ums Überleben. Und um das Leben ihres Kindes. Kein Kaffee.

Ein weiterer Terroranschlag. In Paris zündet jemand ein Auto an, während wir hier alle Kerzen anzünden. Es ist kurz vor Weihnachten und wir hetzen von einem Supermarkt, von einem Geschäft zum nächsten und während wir uns nicht entscheiden können, ob die goldene oder die silberne Uhr ein schöneres Geschenk ist, muss sich jemand entscheiden, ob die lebenserhaltenden Geräte ab geschalten werden sollen, oder nicht.

In diesem Moment stirbt ein Mensch. Ein Kind. Eine Katze.

Das sieht einfach so schön aus hier. Endlich ist die Sonne hinter einer kleinen Wolke verschwunden und ich schnappe mir mein neues iPhone. Ich öffne die Kamera app und schieße ein Foto, während er dort draußen irgendwo einen Mann erschießt.

Das steht dann morgen auch in deiner Zeitung, die du wie selbstverständlich beim Frühstück im Cafe nebenan aufschlagen und richtend mit dem Kopf schütteln wirst.

Dass er keine Wahl hatte, das wissen wir nicht, denn auch hier ging es ums Leben. Ums überleben.

Du nippst an deinem Glas Champagner. Der letzte Schluck. Das letzte bisschen kostbares Wasser in der Wüste. In der Hitze.

Brennende Wälder und noch mehr brennende Kerzen. Während wir heilig Abend feierlich durch den Schnee in die Kirche stapfen, eingepackt in dicke Jacken, die Füße in warmen Stiefeln, flüchtet sie barfuß in die Moschee. Flucht vor dem Krieg. Flucht vor ihm.

Wir schlittern über die verschneiten Gehwege. Zum Spaß. Und jemand anders schlittert mit seinem Wagen gegen den nächsten Baum.

Ich hole erneut mein Smartphone aus der Tasche und wähle deine Nummer. Es klingelt, während sie irgendwo traurig und verzweifelt vor ihrem Telefon sitzt, das einfach nicht klingeln will. Weil er nicht angerufen hat, obwohl er es versprochen hatte. Und irgendwo anders sagen sie ja, weil sie ihre Versprechen halten. Halten müssen. Weil sie „schon“ 14 ist und keine Wahl hat. Sie schreit.

Du holst deine Kreditkarte aus deiner Tasche, um dein Frühstück zu bezahlen, denn du hast nur noch wenige Euros im Geldbeutel. Keine Kreditkarte und der letzte Euro ein paar Mal in der Hand gedreht. Das reicht nicht bis zum Ende des Monats.

Ich schließe meine Augen und denke zurück an den Sommer, als wir alle am Strand saßen und dem Krebs zusahen, wie er vergeblich versuchte, den Wellen auszuweichen. Wie jemand schockiert, wütend und traurig ein CT Bild betrachtet. Den Krebs betrachtet.

Die Sonne versinkt langsam am Horizont und geht irgendwo auf dieser Welt gerade wieder auf. Für jemanden beginnt ein neuer Tag. Im Paradies. Ein neuer Kampf ums Überleben. Ums Leben.

Als du seufzend deine Zeitung zuklappst und von dem Sitz aufstehst, weißt du nicht wie gut es uns eigentlich geht, während ich hier im Bus sitze und immer noch begeistert den Auslöser drücke.